Über den „Totalitarismus“ hinaus?
Wäre es denkbar, dass die Theorie des „Totalitarismus“ ihre vorherrschende Rolle im Mainstream – Diskurs verlieren und durch eine noch plumper antikommunistische Sichtweise abgelöst werden könnte?
Um eventuell neue Tendenzen einzuordnen, ist ein etwas längerer Rückblick auf die Geschichte und Vorgeschichte der Totalitarismus – Theorie nötig.
Während des Zweiten Weltkriegs blickten die Völker der Welt voll Entsetzen auf die faschistische Gefahr, die auf dem Weg schien, die Menschheit zu überrollen und ihrer schrankenlosen Barbarei zu unterwerfen.
Sechs Jahre lang hatten sie erlebt, wie die Regierungen der bürgerlichen Demokratien sich als unfähig und unwillig erwiesen, der wachsenden Stärke und Aggressivität des Faschismus eine Grenze zu setzen. Stattdessen erlaubten sie, dass er mit ihrer Unterstützung ihre möglichen Verbündeten ausschaltete und unterwarf, Österreich, die Spanische Republik und die Tschechoslowakei. Und selbst nach dem Überfall auf Polen erklärten Frankreich und Großbritannien zwar den Krieg, führten ihn aber trotz anfänglicher militärischer Überlegenheit nicht ernsthaft. Diese verräterische Politik beruhte auf der Hoffnung, dass die Faschisten sie selbst nicht angreifen würden, sondern sich gegen die Sowjetunion wenden, den eigentlichen Hauptfeind der westlichen Regierungen (wie auch der Faschisten). Ein Bündnis mit der Sowjetunion gegen die Faschisten haben die westlichen Regierungen aus dieser Strategie von Anfang an hintertrieben.
Diese hinterhältige Politik durchkreuzte die Sowjetunion durch den Nicht-Angriffsvertrag mit Hitlerdeutschland und gewann dadurch zwei Jahre Zeit und eine Westverschiebung ihrer Grenze, um sich auf den unvermeidlichen Angriff der Faschisten besser vorzubereiten.
In dieser Zeit gelang es Hitlerdeutschland, sich mit Ausnahme der Sowjetunion ganz Kontinentaleuropa in „Blitzkriegen“ zu unterwerfen.
Das antifaschistische Bündnis
Als der Angriff auf die Sowjetunion begann, zeigte sich von Anfang an, dass sie keineswegs der „Koloss auf tönernen Füßen“ war, den Hitler erwartet hatte. Trotz riesiger Anfangserfolge musste die Wehrmacht Verluste in bis dahin nicht gekannter Größe hinnehmen. Und nach einem halben Jahr wurde sie 40 km vor Moskau zum Stehen gebracht. So wurde die Sowjetunion für die Völker zum Symbol der Hoffnung auf einen Sieg über den Faschismus.
Das galt keineswegs nur für die Kommunisten. So hielt Einstein während der Schlacht um Stalingrad vor einem jüdischen Auditorium eine bemerkenswerte Rede. Hier einige Auszüge:
„…. Wir müssen besonders nachdrücklich die Tatsache betonen, dass die russische Regierung ehrenhafter und unzweideutiger für die Förderung der internationalen Sicherheit gearbeitet hat, als alle anderen Großmächte. Ihre Außenpolitik war bis kurz vor Ausbruch des Krieges konsequent auf dieses Ziel gerichtet, eigentlich bis zu der Zeit, wo die anderen Mächte es in den Tagen des Verrats an der Tschechoslowakei aus der europäischen Arena ausschlossen. Somit wurde es in den unglücklichen Pakt mit Deutschland getrieben; denn es war offensichtlich geworden, dass Anstrengungen unternommen wurden, um die Kraft des deutschen Angriffs ostwärts zu wenden. Russland unterstützte im Gegensatz zu den Westmächten die legitime Regierung Spaniens, bot der Tschechoslowakei seine Hilfe an… Kurz, Russland kann in der Außenpolitik nicht der Unloyalität angeklagt werden… Nun ein Kommentar zu den Ereignissen innerhalb Russlands. Die Existenz einer Politik von hartem Zwang in der politischen Sphäre ist nicht zu leugnen…. Ich erdreiste mich nicht, in diesen schwierigen Angelegenheiten den Richter zu spielen; in der Einigkeit des russischen Volkes gegen einen machtvollen äußeren Feind und in den grenzenlosen Opfern und der beispielhaften Selbstlosigkeit jedes Einzelnen sehe ich aber den Beweis eines starken und umfassenden Willens, das zu verteidigen, was sie gewonnen haben…
Zum Schuss möchte ich eine für uns Juden besonders wichtige Tatsache erwähnen. In Russland wird die Gleichheit aller nationalen und kulturellen Gruppen nicht nur formal, sondern tatsächlich praktiziert. „Gleiche Ziele und gleiche Rechte werden verbunden mit gleichen Verpflichtungen für die Gesellschaft“ ist nicht nur ein leeres Wort, sondern eine Praxis, die täglich realisiert wird.
Soviel über Russland, wie es uns heute erscheint. … Deshalb ist es mehr als ein Diktat der Selbsterhaltung, dass wir Russland, auf alle erdenkliche Art und Weise, bis zur äußersten Grenze unserer Möglichkeiten, helfen. Und, abgesehen von unserem Eigeninteresse, schulden wir und unsere Kinder dem russischen Volk für die erlittenen riesigen Verluste und Leiden großen Dank. Wenn wir unsere Selbstachtung als menschliche Wesen erhalten wollen, müssen wir uns seiner Opfer in jeder Stunde unseres Lebens bewusst sein.“
(Rede vom 25.10.1942, zitiert aus: Einstein on peace, New York 1960 S. 322ff-rückübersetzt)
Bündnis und Egoismus
Diese Einstellung war in der Bevölkerung weit verbreitet. Die führenden westlichen Politiker dagegen behielten ihre Interessen genau im Blick. Für Gefühle wie die von Einstein geforderte Dankbarkeit war da kein Platz. Sie schlossen zwar ein Bündnis mit der Sowjetunion, es kam ihnen aber gelegen, die Sowjetunion die Hauptlast des Kampfes gegen den Faschismus tragen zu lassen. So hatten sie zu Beginn des Bündnisses eine zweite Front in Frankreich für 1942 versprochen, ließen sich aber damit Zeit bis Juni 1944. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Rote Armee die Überlegenheit über die Wehrmacht errungen, und es war klar, dass sie auch ohne zweite Front siegen würde. Die Landung sicherte dann den Einfluss der Westmächte in den Gebieten, die sie selbst befreiten.
Die Konferenzen von Jalta und Potsdam 1945 regelten dann den entscheidenden Einfluss der jeweiligen Siegermächte in den von ihnen befreiten Gebieten. Eine andere Lösung wäre nicht ohne Krieg zwischen den bis dahin verbündeten Siegermächten denkbar gewesen.
Dennoch stellte vor allem Churchill fest, dass sein Land durch den Verlauf und die Ergebnisse des Weltkriegs an Macht und Einfluss in der Welt entscheidend verloren hatte und nur noch als Juniorpartner der USA in der Weltpolitik mitspielen konnten.
Aus dieser Zeit ist Churchills Ausspruch in Bezug auf Hitler und Stalin kolportiert: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.“
Aber auch Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman machte rasch klar, dass unmittelbar nach dem gemeinsam errungenen Sieg über die Achsenmächte der Übergang zur Konfrontation, zum kalten Krieg einsetzte:
Ende des Bündnisses, Beginn des „Kalten Kriegs“
Noch während der Potsdamer Konferenz im August 1945 ließ er Hiroschima und Nagasaki mit Atombomben zerstören. Von einer militärischen Notwendigkeit für diesen Akt konnte keine Rede sein: Japan war bereits in Gespräche über die bedingungslose Kapitulation eingetreten. Der einzige Zweck war eine Machtdemonstration, um Stalin einzuschüchtern und zu mehr Nachgiebigkeit in der Zukunft zu zwingen.
Darauf ließ Stalin sich nicht ein; er bestand darauf, dass die Verbündeten die Verträge einhielten. Er ließ nicht zu, dass durch den Druck der USA die Völker der Sowjetunion um die Früchte des Sieges betrogen wurden, den sie mit dem Verlust von Millionen von toten Soldaten und Zivilisten errungen hatten.
Noch aggressiver trat Churchill auf. Nach Berichten des „Spiegel“ behielt er in Schleswig-Holstein große Truppenteile der Wehrmacht nach deren Kapitulation noch einige Zeit unter Waffen. Im März 1946 hielt er als Gast Trumans in Fulton/Missouri die berühmte „iron- courtain“ – Rede, mit der er den kalten Krieg sozusagen offiziell eröffnete.
Diktat der Sieger und Selbstbestimmung
In seiner Rede stellte Churchill die politische Gestaltung in den von der Roten Armee befreiten Gebieten als Ausdruck von kommunistischer Diktatur und Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung dar. Nach seiner Auffassung von Freiheit und Demokratie hätte die Rote Armee wohl erst einmal kapitalistische Staaten wieder herstellen müssen, ehe sich dann die Bevölkerung in „freien Wahlen“ hätte eventuell entscheiden dürfen, dass sie den Kapitalismus abschaffen wollte. (Was in einem kapitalistischen Staat passiert, wenn die Bevölkerung in Wahlen zum Sozialismus kommen will, hat man vor vierzig Jahren in Chile gesehen: Dann wird nicht der Kapitalismus abgeschafft, sondern die Demokratie.)
Ganz anders als in Osteuropa sah es angeblich dort aus, wo amerikanische und britische Truppen standen. Griechenland war vor dem Eingreifen der Briten bereits zum größten Teil von den griechischen Partisanen befreit, bei denen die Kommunisten den entscheidenden Einfluss besaßen. Deren Armee und Verwaltungen wurden von der Britischen Armee in blutigen Kämpfen und Säuberungen zerschlagen.
In Italien und Frankreich gab es ebenfalls mächtige Partisanenarmeen, die weite Teile dieser Länder befreit hatten. Diese wurden gezwungen, ihre Waffen an die von den Briten und Amerikanern eingesetzten Regierungen auszuliefern.
Wer wie weit den Volkswillen respektierte, konnte man an zwei Beispielen aus Deutschland sehen. In Sachsen fand im Juni 1946 eine Volksabstimmung über die Enteignung der kapitalistischen Großbetriebe statt. Diese wurde in geheimer Wahl mit 75% der Stimmen beschlossen und dann in der gesamten sowjetischen Besatzungszone durchgeführt. Eine entsprechende Abstimmung fand im Herbst 1946 in Hessen statt, mit 77% Zustimmung. Die Umsetzung wurde dort von der Besatzungsmacht verboten.
Der „Totalitarismus“
Nachdem die Westmächte den kalten Krieg begonnen hatten, mussten sie die Sicht der Bevölkerung auf die Sowjetunion ändern, die Bewunderung für die wichtigsten Bezwinger der Faschisten zurück drängen. Das theoretische Rüstzeug für die neue Sicht lieferte 1951 Hanna Ahrendt. Den Begriff „totalitär“ gab es schon vor dem Krieg zur Kennzeichnung der faschistischen Diktaturen. Hanna Ahrendt dehnte nun diesen Begriff auf die sozialistischen Staaten aus. Sie wies auf formale Ähnlichleiten in gewissen Herrschaftsmethoden der Faschisten und der Kommunisten hin und entwickelte daraus den Begriff „Totalitarismus“.
In diesem formalen Vergleich abstrahierte sie von den Inhalten und sozialen Bedingungen beider politischen Systeme. Sie fragte nicht, welche Klasse die Herrschaft ausübt, die Interessen welcher Klasse die Regierung vertritt und welche Klasse sie unterdrückt.
Sie fragte nicht nach den ideologischen Grundlagen beider Systeme, Befreiung der Ausgebeuteten und Unterdrückten hier oder Herrschaft der „überlegenen Rasse“ über die „minderwertigen“ dort.
Eine solche Abstraktion von den wesentlichen Inhalten der jeweiligen Herrschaftsform ist unwissenschaftlich und versperrt den Weg zu erfolgreicher Forschung. (Das ist, als würde man in der Zoologie eine Theorie der „Grünheit“ entwickeln und darauf die Wesensidentität von Schmeißfliege, Grashüpfer, Laubfrosch, Kakadu und Krokodil begründen.)
Dennoch wurde dieser unwissenschaftliche Kampfbegriff zentral für die antikommunistische Ideologie.
Worauf sie hinaus läuft, hat Thomas Mann scharfsichtig erkannt. „Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Hass aber allein den Kommunismus bekämpfen.“ Essays, hg. Von Kurzke, Frankfurt 1986 Bd.2, S.311
Dies würden unsere führenden Politiker für sich sicher empört zurückweisen und erklären, dass sie selbstverständlich jeden Extremismus, ob von links oder von rechts, in gleicher Weise verurteilen. Aber dabei kommen einem Zweifel, wenn man bedenkt, dass
-.die Nazi – Eliten fast bruchlos in den BRD-Staat übernommen wurden
-.die einzige Partei, die von Anfang an bis zum Schluss den faschistischen Staat bekämpft hatte, die KPD, nach 11 Jahren wieder verboten wurde
-.Zusammenarbeit und gute Beziehungen zu den verbliebenen faschistischen Staaten in Europa, Spanien und Portugal, nach dem Krieg noch dreißig Jahre problemlos fortgesetzt wurden
-.faschistische Putsche in aller Welt (Iran, Griechenland, Chile, Argentinien, Indonesien) vom Westen mit organisiert, geduldet und begrüßt wurden
-.Die deutschen Geheimdienste ihre Tätigkeit wesentlich gegen linke Organisationen richteten
-.Der NSU zehn Jahre lang mordend durch Deutschland ziehen konnte, ohne dass bei den Diensten auch nur der Verdacht auf rechte Täter aufkam?
Über den „Totalitarismus“ hinaus
Nach meinem Eindruck bahnt sich in der ideologischen Debatte ein neuer Trend an: Eine einseitige Wertung des Kommunismus als Hauptfeind von Demokratie, Menschenrechten und Menschlichkeit schlechthin, verbunden mit einer Verharmlosung oder Entlastung des Faschismus. Das wird vermutlich ein langwieriger Prozess sein. Sicher wird jetzt noch kein führender deutscher Politiker offen den Faschismus verharmlosen.
Praktische Politik
In der praktischen Politik bereiten andere den Boden für die Übernahme faschistischer Elemente in die Politik vor, vor allem ehemalige Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken. Letztere begehen offizielle Gedenkfeiern für ihre Nazi-Kollaborateure und SS-Einheiten. Erstere preschten mit Verboten vor, Symbole wie Hammer und Sichel zu zeigen, sowie die Tschechei mit einem Verbot des kommunistischen Jugendverbands, weil der die Verstaatlichung der Großkonzerne forderte.
Hierher gehört auch die Entwicklung in Italien. Dort war Finis Partei, die lediglich umbenannte Faschistische Partei, lange an Regierungen beteiligt.
Wende in der theoretischen Debatte
Hier bereiten Akteure aus Kultur und Wissenschaft eine solche Trendwende vor, ehe die herrschende Politik einsteigt. Der Historiker – Streit Ende des letzten Jahrhunderts verbreitete noch die Einsicht in die Singularität des Holocaust und relativierte so die Vorherrschaft der Totalitarismus – Theorie. Jetzt gibt es Tendenzen, in der Sicht auf die Geschichte die Gewichte in die entgegen gesetzte Richtung zu verschieben. Dazu zwei Beispiele:
Erstes Beispiel: Doku-Film in ARTE
Im August 2013 lief eine Sendung unter dem Titel „Churchills großes Spiel“ in Arte, einem deutsch-französischen Sender mit angeblich hohem Niveau für anspruchsvolles Publikum. In diesem Dokumentarfilm wurde der Weltkrieg „aufgearbeitet“ in einer Weise, dass die Sowjetunion und ihre Führer buchstäblich „verteufelt“ wurden.
Der Film wird u.A. kommentiert von Norman Davis, Historiker in Oxford (ND) und Henri Lunghi, Britischer Diplomat (HL)
Der Film beginnt mit Szenen aus der Potsdamer Konferenz nach dem Sieg über Hitler-Deutschland. Kommentiert werden die Bilder: „(Die drei Großen, Churchill, Truman und Stalin) pokern um Macht und Land. Churchill will hier nicht nur sein Spiel spielen. Das hat er versprochen.“
Und etwas später: „Churchill hat sein Versprechen gebrochen, mit demer sein Volk in den Krieg führte.“ (Gemeint ist das Versprechen gegenüber Polen, ihm gegen Hitler beizustehen. Dieses Versprechen hat er, durch die Kriegserklärung und den Krieg gegen die Faschisten, meiner Meinung nach erfüllt. Ein Versprechen, ein bürgerliches Polen wieder herzustellen, auch wenn dort die Faschisten von anderen geschlagen wurden, hat er nicht gegeben und konnte er auch nicht geben, wenn er nicht bereit war, sofort nach dem Sieg über Hitler einen neuen Krieg gegen den bisherigen Bündnispartner vom Zaun zu brechen.)
An dieser Stelle trifft ND zwei Feststellungen, die ihn meiner Meinung nach in seiner Qualität als Historiker charakterisieren: „Churchill hielt Hitler für einen gefährlichen Irren“ und „(Im Ersten Weltkrieg ging es um) verletzte Eitelkeiten“. Ich hatte Churchill für einen klugen Politiker gehalten und bisher gedacht, Churchill wäre klar gewesen, dass hinter Hitler ernste Männer aus Industrie und Banken standen, und Wilhelm II wäre es um „einen Platz an der Sonne“ (sprich um Kolonien der anderen Großmächte) gegangen.
Dann fährt ND fort: „Hitler und Stalin waren Gangster und Banditen. Beide wollten die neuen Staaten Osteuropas vernichten.“ Warum hat Stalin es dann nicht getan? Warum haben die neuen Staaten Osteuropas bis zum Ende der Sowjetunion bestanden? Oder ist nur ein Staat nach westlichem Muster ein Staat?
Der Film fährt fort: „Stalin bastelte an seiner Kommunistenwelt“ Dabei zeigt der Film Stalin als Cartoon. Seine Pupillen ändern dabei ihre Farbe in ein „teuflisches“ Rot. ND fährt fort: „Stalin hasste die Polen abgrundtief, ich denke, sogar mehr als Hitler“
Einen solchen Satz sollte ein Oxford- Historiker eigentlich belegen. Nicht so ND. Gegen die sechs Millionen Polen, die durch die Nazis ermordet wurden, ist das Massaker von Katyn, dessen Täter bis heute nicht zweifelsfrei ermittelt wurden, vom Umfang her weniger gewichtig. Nachdem im Cartoon ausführlich dargestellt wird, wie sowjetische Geheimdienstler oder Offiziere in Katyn die gefangenen polnischen Offiziere erschießen, kommentiert das ein polnischer Kriegsteilnehmer so, dass damit „die gesamte Intelligenz Polens vernichtet“ wurde. Dann folgt ein Cartoon, wo Stalin seinen Geheimdienstchef Berija für das Massaker lobt und dabei wieder seine teuflisch roten Augen kriegt. Danach fährt der Filmkommentar fort: „Doch die Schuldfrage bleibt ungeklärt. Die Verbündeten glauben den Sowjets aber nicht.“ Damit dürfte der Fall dann ja geklärt sein, oder? (Glauben als wissenschaftliches Argument! Erinnert sei hier an Saddams biologische Massenvernichtungswaffen und G. W. Bushs Glauben) Nebenbei: An keiner Stelle wird Hitler in vergleichbarer Weise wie Stalin als Teufel in Menschengestalt gezeigt.
Noch ein paar kleine Gemeinheiten aus dem Film:
-.Der faschistische Angriff auf die Sowjetunion wird kommentiert mit „Stalin war außer sich. Angegriffen zu werden, das hatte er nicht erwartet.“ Es gibt vielfältige Belege, dass Stalin überzeugt war, der Angriff sei unvermeidlich und würde spätestens 1942 erfolgen. Der unerwartete Zeitpunkt und der Überfall ohne Kriegserklärung haben ihn tatsächlich überrascht und erschüttert. Es gibt aber kein Zeugnis, dass er cholerisch oder beleidigt reagiert hätte. Nachdem er sich einige Tage lang gesammelt hat, hat er sich mit einer ruhigen und ermutigenden Rede an das Volk gewandt: „An euch, Brüder und Schwestern, meine Freunde, wende ich mich…“
-.Die Schlacht um Stalingrad kommentiert HL: „Der Winter (!) bricht den Deutschen das Genick.“ Stalingrad war der zweite Kriegswinter. Dass Winter in Russland sehr kalt sein können, sollte Hitler gewusst haben. Wenn er beide Male seine Ziele bis zum Winter nicht erreichen konnte, hängt das ja vielleicht mit der Kampfkraft und Moral der Roten Armee zusammen. Bei Bildern vom Marsch der 6. Armee in die Gefangenschaft ist der Kommentar: „Nur wenige werden Stalins Lager überleben.“ Damit wird wiederum eine mörderische Absicht suggeriert. Ein Hinweis auf das Verbrechen der Wehrmacht, drei Millionen gefangene Rotarmisten planmäßig verhungern zu lassen, fehlt. Ebenso fehlt die Information, dass die deutschen Kriegsgefangenen die gleichen Rationen erhielten wie die sowjetische Zivilbevölkerung. Die Überlebenden der 6. Armee waren aber nach über zwei Monaten Hunger und Kälte in der Kesselschlacht bereits mehr tot als lebendig.
-.Zur Bündnistreue: Die Westmächte hatten für 1942 die zweite Front in Frankreich versprochen. 1942 bleibt sie aus, für 1943 kommentiert der Film: „Churchill wagt es immer noch nicht“. Von Verrat spricht der Film hier nicht. Stattdessen „wagte“ die Rote Armee die Schlacht von Kursk und ergriff nach dieser letzten Offensivaktion der Wehrmacht endgültig selbst die Offensive. Als 1944 die Rote Armee die Heeresgruppe Mitte komplett zerschlagen hat und in drei Monaten 800 km verlustreichen Vormarsch bewältigt hat, „erhebt sich die (polnische Heimatarmee) AK und hofft auf russische Hilfe.“ Eine Absprache und Koordination mit der Sowjetunion hat es nicht gegeben, geschweige irgendwelche Zusagen. Das ändert für den Film nichts daran, dass die ausbleibende Hilfe in diesem Fall nur Ausdruck von Verrat und Polenhass sein kann. „Zum ersten Mal begriff Churchill, dass Stalin kein echter Verbündeter war.“ (ND) Und natürlich erwog er Konsequenzen: „Churchill drohte Stalin mit dem Stopp der Unterstützung und Lieferungen“(HL). Bündnistreue aus dieser Sicht bedeutet für Churchills eigene Verpflichtungen: „Komm ich heut nicht, komm ich morgen“ und für den Bündnispartner: „Wenn du nicht so kämpfst, wie ich es mir wünsche, drehe ich die den Hahn zu.“
Zum Abschluss, bei der Potsdamer Konferenz, verpasst der Film Stalin noch einmal seine roten Augen und lässt HL die Bilanz des Films ziehen: „(Es war) eine schreckliche Enttäuschung, dass wir Stalin geholfen haben, einem Regime, das noch schrecklicher war als das, was wir bekämpft hatten.“ Also: „Katyn“, wenn es denn die Sowjets waren, war schlimmer als Auschwitz.
Zweites Beispiel: „Bloodlands“ von Timothy Snyder (TS).
2010 erschien „Bloodlands“. Sein Autor, Professor an der Yale- Universität, bleibt noch auf den Positionen des Totalitarismus, dass Hitler und Stalin gleich schlimm und verbrecherisch waren. Im Einzelnen bemüht er sich aber, die Verantwortung für bestimmte Ereignisse, die bisher bei Hitler gesehen wurde, gleichmäßig beiden zuzuordnen. Das soll hier nur an zwei Beispielen aus dem Buch belegt werden.
-.Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen:
Durch den Überraschungsangriff waren der Wehrmacht drei Millionen Kriegsgefangene in die Hände gefallen. Diese ließ sie in Gefangenenlagern in der Ukraine und Weißrussland verhungern. TS erwähnt dieses Verbrechen zwar ausführlich, zumal es dem Schwerpunkt seines Buches, der Häufung von Verbrechen in der als „Bloodlands“ bezeichneten Region entspricht. Er geht allerdings nicht darauf ein, dass die Opfer dieses Verbrechens nicht überwiegend aus den „Bloodlands“ stammten, sonder aus der gesamten Sowjetunion.
Besonders kritikwürdig sind aber Formulierungen von TS, die die Schuld an diesem Verbrechen relativieren: „Doch die sowjetischen Kriegsgefangenen starben als Resultat der Interaktion beider Systeme.“ Welchen Beitrag er hiermit der Sowjetunion zuschieben will, bleibt unverständlich.
-.Terror gegen die Zivilbevölkerung
Zum Terror der Faschisten gegen die Zivilbevölkerung in den „Bloodlands“ ist anzumerken: Terror haben die Faschisten überall ausgeübt, wohin die Wehrmacht kam. Auch die Steigerung des Terrors zur Ausrottungspolitik gab es nicht nur in TS` „Bloodlands“ sondern auch in Griechenland und Jugoslawien. Am blutigsten war er allerdings in den von TS betrachteten Gebieten. Aber auch hier finden wir eine Verschiebung der Verantwortung zu den Opfern der Verbrechen hin:
„Deutsche und Sowjets provozierteneinander zu immer größeren Verbrechen, wie in den Partisanenkämpfen um Weißrussland und Warschau,bei denen die Deutschen über eine halbe Million Menschen ermordeten.“
Zu diesem Satz sind gleich fünf Anmerkungen nötig:
– „Provoziert“ erweckt den Eindruck, die Sowjets hätten an den Verbrechen der Faschisten eine Mitschuld. So kann man die Dinge eigentlich nur sehen, wenn man den Angriff auf die Sowjetunion als legitim ansieht. Anderenfalls hat die Bevölkerung als Opfer des Angriffs und der Besatzung selbstverständlich das Recht zum Widerstand. Das gibt dem Aggressor natürlich nicht das Recht zu Massenterror gegen die Zivilbevölkerung. „Provoziert“ lässt die Faschisten in milderem Licht erscheinen, in der Art: Die Deutschen wären ja gerne humaner vorgegangen, aber die Sowjets haben sie nicht gelassen, sie haben sie provoziert.
– Zu welchen „immer größeren Verbrechen“ ließen sich denn in diesem Zusammenhang „die Sowjets“ von „den Deutschen“ provozieren? Das Wort „einander“ ist nicht einfach eine Fehlleistung, sondern der Versuch, die Grundaussage des Buchs (gleiche Brüder, gleiche Kappen, gleiche Verbrechen) auch hier einzuschmuggeln.
– Der Partisanenkrieg in Weißrussland widerlegt einen zentralen Punkt in TS` Sicht auf die „Bloodlands“: dass hier eine unbeteiligte Zivilbevölkerung zwischen die Mühlsteine fremder Großmächte und ihrer Ideologien geraten sei. Ein dreijähriger Partisanenkrieg unter schrecklichen Repressalien der Besatzer ist unvorstellbar ohne massive Unterstützung der Partisanen durch die Bevölkerung.
– Welche Partisanenkämpfe in Warschau meint S.? Es gab zwei größere: Den Aufstand der antikommunistischen Armia Krajowa (Heimatarmee) 1944, von dem die Sowjetunion vorher nicht informiert wurde. Dass ausgerechnet die Sowjets mit dem Aufstand die Deutschen hätten provozieren wollen, ist absurd.
-.Oder meint S. den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943? Natürlich empfanden es die deutschen Herrenmenschen als sehr provokativ, dass die „jüdischen Untermenschen“ sich zum Schluss nicht weiter widerstandslos nach Treblinka ins Gas schicken ließen, sondern es vorzogen, kämpfend unterzugehen. Dieser Aufstand war ein heroischer Akt, die Menschenwürde angesichts der sicheren Vernichtung durch einen übermächtigen Feind zu verteidigen. Er wurde von kommunistischen, sozialdemokratischen, zionistischen und religiösen Kampfgruppen gemeinsam getragen. Eins war er mit Sicherheit nicht: Eine Provokation der Deutschen durch die Sowjets.
Zwei Beispiele können den vermuteten neuen Trend in der Debatte sicher nicht „beweisen“, aber sie geben vielleicht Anlass, aufmerksam auf weitere Beispiele zu achten und dieser Entwicklung entgegen zu treten.
Fritz Dittmar